Es ist manchmal erschreckend, wie realistisch die Wünsche der Jugendlichen sind.
Welche Aufgaben haben Sie als Prozessbegleiter bei Jugend entscheidet?
Jugend entscheidet hat zwei Herzstücke: die Thementage, an denen Jugendliche ihre Ideen diskutieren, und eine Ratssitzung, in der die Politik mindestens eine Entscheidung der Jugendlichen umsetzt. Ergänzend zu diesem konkreten Beteiligungsverfahren werden die Kommunen durch uns Prozessbegleiter individuell beraten. Ich stehe also dem kommunalen Team zur Seite, das aus Vertreterinnen und Vertretern aus Politik, Verwaltung, Schule, Jugendarbeit und Vereinen besteht. Oft müssen sich die Akteure erstmal kennenlernen, deshalb treffen wir uns mit dem kommunalen Team bereits mehrmals, bevor der erste Kontakt mit den Jugendlichen stattfindet. Zudem ist es hilfreich, wenn der Prozess vor Ort einen außenstehenden Begleiter hat, der die im Projekt gemachten Erfahrungen gemeinsam mit den Beteiligten auswertet, damit am Ende ein Erfolg daraus wird, wenn meine Begleitung nach einem guten Jahr wieder endet. Jugendbeteiligung klingt erstmal einfach, aber es ist ein komplexes Thema, und eine Kommune ein komplexes Gebilde, das macht es also nicht einfacher.
Was sind die besonderen Herausforderungen in dem Jugend entscheidet-Prozess?
Dass jede Gruppe, jedes System seine eigene Sprache hat: Die Politik hat zum Beispiel eine andere Sprache als die Verwaltung und als die Menschen aus der Jugendarbeit, und die Jugendlichen haben auch noch ihre eigene Sprache. Da braucht es Zeit, um sich kennenzulernen und eine gemeinsame Sprache zu entwickeln, auf der man aufbauen kann, damit die Erwachsenen auch weiter zusammenarbeiten können, wenn die Hertie-Stiftung wieder weg ist. Meine Aufgabe ist es, dieses positive Ende von Anfang an mitzudenken, damit später alles von allein läuft.
Wie finden Sie diese gemeinsame Sprache?
Man muss viel miteinander reden. In der sächsischen Gemeinde Niesky haben wir mit den Vertretern der Kommune am Anfang sehr viel über die unterschiedlichen Erfahrungen geredet, die es mit Jugendbeteiligung gab, sowohl die positiven also auch die negativen. Vor fünf Jahren hatte Niesky schon mal versucht, vor Ort mit den Jugendlichen ins Gespräch zu kommen, es sind aber keine gekommen. Das ist kein Einzelfall. Es passiert häufiger, dass Kommunen junge Menschen beteiligen wollen, es aber schwierig ist, zueinander zu finden. In Niesky wirkte diese Erfahrung nach. Mit dieser Vorarbeit konnten wir einen neuen Ansatz erarbeiteten. Umso schöner, dass am Ende etwa 40 Jugendliche bei den Thementagen im September dabei waren, sehr viel mehr, als wir gedacht hatten. In Löbau, auch in Sachsen, wo der Prozess bereits abgeschlossen ist, hatten wir eine Woche vor den Thementagen gar keine Anmeldungen von Jugendlichen, das war sehr deprimierend für alle. Doch dann konnten wir kurzfristig doch noch 27 Schülerinnen und Schüler für die Thementage begeistern.
Was ist der Trick, wie haben Sie das geschafft?
Jugendbeteiligung lebt auch immer davon, gemeinsam herauszufinden, wie es vor Ort gut funktionieren kann. In beiden Kommunen gab es positive Erfahrungen, auf denen wir aufbauen konnten. So entstand die Idee, mit den Jugendlichen noch konkreter in Kontakt zu treten. In Niesky hat eine Lehrerin Jugendliche in ihrer Schule direkt angesprochen. Das hat so gut funktioniert, dass das gesamte kommunale Team in allen Klassen in den beiden Schulen in die Ansprache gegangen ist. Das war am Ende der Schlüssel zum Erfolg. In Löbau war es ähnlich, auch dort wurden die Schülerinnen und Schüler direkt angesprochen. Eine Mitarbeiterin der Stadtverwaltung meinte später, es habe sie überrascht, dass es nicht die digitalen Kanäle seien, mit denen man die jungen Menschen erreicht hätte, sondern durch den persönlichen Kontakt.
Gibt es noch mehr Verständigungsschwierigkeiten zwischen Kommune und Jugendlichen?
Ich glaube, dass die Annäherung zwischen Erwachsenen und Jugendlichen manchmal darunter leidet, dass die Erwachsenen den jungen Leuten oftmals noch mit Vorurteilen begegnen: Mit Jugendlichen könne man nicht ernsthaft ins Gespräch kommen, die wollen nur ihren Spaß, machen alles kaputt, kriegen den Mund nicht auf. Solche Vorurteile erlebe ich immer wieder, dabei ist es wirklich erstaunlich, mit welcher Ernsthaftigkeit und wie klar sich die Jugendlichen in den Prozess einbringen und ihre Vorschläge formulieren. Sicher, nicht alle sind so, aber es gibt eben sehr viele, die das gut können und interessante Ideen haben. Es ist schade, dass sie so unterschätzt werden. In Löbau zum Beispiel gab es den Wunsch der Jugendlichen nach einer Suchtklinik, weil sie beobachtet hatten, dass der Alkoholkonsum während der Coronazeit gestiegen war und ihnen wichtig ist, dass etwas dagegen getan wird - was mich sehr berührt hat. Außerdem ging es um die Sanierung der Schultoiletten und mehr Mülleimer. In Niesky wünscht man sich u.a. Angelteiche und ein Tierheim. Es überrascht mich immer wieder, wie erschreckend realistisch die Vorstellungen der Jugendlichen sein können. Als Pädagoge wäre es mir lieber, wenn sie manchmal noch etwas verspielter wären, und sich nicht so sehr mit den Missständen und der harten Realität identifizieren würden, aber offensichtlich beschäftigen sie diese Themen auch. Auch Stadträte berichten, dass sie nicht erwartet hätten, worüber sich die jungen Leute wirklich Gedanken machen, und dass sie so verantwortungsbewusst seien.
Welche Wünsche für ihre Heimatorte haben die Jugendlichen noch vorgetragen?
Generell beschäftigen sie sich auch mit Umweltthemen und Nachhaltigkeit. In Niesky schlug man zum Beispiel vor, Windräder aus Holz zu bauen, weil der Holzbau dort Tradition hat. In der fiktiven Jugendstadtratssitzung bekamen folgende Ideen die Mehrheit: eine bessere Anbindung an den öffentlichen Personennahverkehr, vor allem für den Schulweg, den Ausbau eines Jugendzentrums, solarbetriebenes Licht für eine Skateranlage und eine Graffitiwand. Im Dezember wird in der realen Stadtratssitzung entschieden. In Löbau fiel die Entscheidung auf einen Beachvolleyballplatz, der bereits in Bau ist.
Gibt es in Ostdeutschland besondere Herausforderungen für ein Demokratie-Projekt wie Jugend entscheidet?
Ich würde mit Ja und Nein antworten. Zum einen haben wir in Ostdeutschland die Situation, dass solche Prozesse, wie wir sie mit Jugend entscheidet umsetzen, erst 1990 anfangen konnten. Westdeutsche haben also sehr viel länger Erfahrung darin, Demokratie zu üben und Beteiligungsprozesse zu erleben, zum Beispiel in Jugendparlamenten. Vor zehn Jahren habe ich in Sachsen damit angefangen, das Thema kommunale Jugendbeteiligung im ländlichen Raum zu entwickeln, vorher gab es nur wenige Kommunen, die sich damit beschäftigt haben oder funktionierende Lösungen hatten. Es gab den Versuch, positive Beispiele aus dem Westen zu übertragen, aber das hat nicht geklappt. Jede Kommune ist anders, und wir müssen Lösungen finden, die vor Ort passen. Häufig erlebe ich, dass die verschiedenen Akteure, die in einer Kommune für Jugendliche zuständig sind, parallel arbeiten, aber selten zusammen an einem Tisch sitzen. In der Konstellation, wie sich die kommunalen Teams bei Jugend entscheidet treffen, haben die Personen oftmals noch nie zusammengesessen, obwohl sie dieselbe Zielgruppe haben. Das irritiert mich schon ein wenig. Es gilt also, sich kennenzulernen und manchmal auch einiges ausprobieren, bis etwas gelingt. Nur weil es in diesem Jahr funktioniert hat, muss es im nächsten Jahr nicht auch so sein. Es gibt keine Erfolgsgarantie in der Jugendbeteiligung, das gilt allerdings in West- und Ostdeutschland gleichermaßen.
Wie relevant sind Demokratie- Projekte wie Jugend entscheidet in den Kommunen?
Im Auswertungsworkshop in Löbau haben wir die Mädchen und Jungen gefragt, was ihre erste Assoziation zum Thema Jugendbeteiligung ist, und die Hälfte hat Jugend entscheidet genannt. Warum das so ist? Es sei ihre erste positive Beteiligungserfahrung, die sie in ihrer Kommune gemacht hätten, war die Antwort. Wir brauchen also solche Projekte, damit junge Menschen positive Demokratie-Erfahrungen erleben können und sich zu verantwortungsbewussten Bürgerinnen und Bürgern entwickeln können. Das gleiche gilt für die Erwachsenen in den Ämtern und Gremien: Nur, wenn wir ihnen ermöglichen, auf positive Weise Demokratie zu erleben, können sie diese Erfahrungen weitergeben. Gerade Ostdeutschland braucht solche Demokratie-Orte. Dass wir als Prozessbegleitung den Kommunen ein Jahr lang zur Seite stehen, steigert die Erfolgsaussichten. Denn auch wenn zu Beginn noch Vieles wie im Nebel scheint, verbinden sich die Menschen allmählich, lernen sich kennen, entwickeln und stärken die Demokratie ganz hautnah in ihrem Heimatort, Jugendliche und Erwachsene gemeinsam. Mir macht es immer wieder Freude zu sehen, was dort alles entstehen und wachsen kann.