„Gut, Wie erreichen wir Jugendliche und ermöglichen ihnen Beteiligung? Müssen wir dafür neue Wege gehen? Sind wir mutig genug? So mutig, für Beteiligung auch Macht abzugeben? Ist Digitalisierung das Zauberwort, um junge Menschen für Politik zu elektrisieren?
Profitieren von den Erfahrungen der anderen
Dafür gehen die Bürgermeisterinnen und Bürgermeister und ihre Teams in den Verwaltungen innovative Wege. Sie sind motiviert, kreativ, witzig, aber auch nachdenklich – das haben sie in den Bewerbungen für Jugend entscheidet gezeigt. Wer beim Programm der Gemeinnützigen Hertie-Stiftung für innovative Kommunen dabei ist, will ausgetretene Pfade verlassen – und nimmt dafür auch das Risiko in Kauf, mal auf die Nase zu fallen. Die Jugend-entscheidet-Akademie bietet allerdings die Chance dazu, dieses Risiko zu minimieren und sich möglichst viel Wissen von den Kolleginnen und Kollegen aus anderen Städten und Gemeinden abzuschauen. „Was klappt bei dir?“, lautete eine der meistgestellten Fragen während des Bundesforums.
Nimmermüde und aktiv in Workshops dabei
Zum Auftakt des Forums hatten Maik Peyko und Christine Golz, beide Profis für Beteiligungsformate mit langjähriger Erfahrung, auch bei den Zurückhaltendesten das Eis gebrochen. Wenige Stichworte genügten, schon waren alle untereinander ins Gespräch gebracht. Netflix oder Kneipe? Yoga oder Fußball? Meer oder Berge? – da kamen Gleichgesinnte ins Plaudern. Die nächste Aufgabe beim Speeddating war, eine Person zu finden, die den gleichen Job wie man selbst hat und diese zu fragen, was das Schönste ist an diesem Arbeitsplatz. So wurde bereits an Tag eins der Akademie die Anfangsscheu abgelegt und die Teilnehmenden blieben nimmermüde und engagiert dabei – aktiv in den Workshops und Praxiscafés im Tagungshotel in Berlin-Dahlem oder auch beim Stadtspaziergang mit Landschaftsarchitektin Britta Deiwick, der unter dem Motto stand, „Einsam unter vielen: Wie schafft Stadtplanung Begegnung?“
Netzwerken vor malerischer Kulisse
Besonders gefallen hat den meisten das Netzwerk-Abendessen am zweiten Akademietag auf der Terrasse des Hauses der Kulturen der Welt am Ufer der Spree. Das Team von Jugend entscheidet hatte an alles gedacht – auf der Rückfahrt im Bus zum Tagungshotel spielte die exklusiv für die Jugend-entscheidet-Akademie erstellte Spotify-Playlist die Lieblingssongs der Teilnehmenden: Cro sinnierte übers Leben in „Easy“, Nena ließ „99 Luftballons“ fliegen und die Rockballade „Wind of Chance“ träumte von der Magie des Augenblicks und einer glorreichen Zukunft.
Bleibt die Demokratie etwa ohne Nachwuchs?
Wie es um die Zukunft der Demokratie in Deutschland bestellt ist, hatte Bildungsforscher Prof. Klaus Hurrelmann zum Auftakt der Akademie beleuchtet. Er informierte aus erster Hand darüber, wie Jugendliche heute auf Politik schauen und warf die Frage auf, ob Demokratie ohne Nachwuchs bleibt. Unter Umständen ja, so seine Analyse: „Es ist ernst. Wir können es alle spüren. Die liberale Demokratie ist in Gefahr.“ Hurrelmann, Senior Professor of Public Health and Education an der Hertie School und einer der führenden Bildungs- und Sozialforscher Deutschlands, registriert einen Vertrauensverlust der jungen Leute in die Politik. Die Gründe dafür sind vielfältig: Jugendliche fühlten sich alleingelassen während der Coronapandemie, aktuelle Entwicklungen wie etwa der russische Angriffskrieg auf die Ukraine, die Klimakrise und das Erstarken demokratiefeindlicher Parteien machen nicht nur jungen Menschen Angst. Während sich etwa 30 Prozent der (eher schlecht ausgebildeten) Jugendlichen von der Politik abwenden oder sich empfänglich zeigen für populistische Aussagen, zeigt sich die große Mehrheit der (besser ausgebildeten) Jugend durchaus interessiert an ernsthaften politischen Fragen. „Das heißt aber nicht, dass sie sich in Parteien engagieren. Sie schließen sich eher politischen Bewegungen an, wie das Beispiel Fridays for Future zeigt. Sie bevorzugen Bewegungen und Projekte, wollen direkte Demokratie praktizieren – und machen dabei einen Bogen um politische Institutionen“, so Bildungsforscher Hurrelmann, der die Prognose wagte, dass die Kommunen sich auf disruptive Ansätze gefasst machen müssen. Etwa so wie die Generation Z den Arbeitsmarkt revolutioniere, habe mutmaßlich die junge politische Generation nicht vor, in die Fußstapfen der Älteren zu treten. Klaus Hurrelmanns Tipp:
- „Junge Leute sind interessiert, ihnen sind Inhalte der Politik wichtig, sie möchten kommunikativ erreicht werden da, wo sie sich aufhalten – zum Beispiel im Internet. Wollen Parteien sie erreichen, müssen sie sich bewegen.“
„Menschen vermitteln, dass sie dazugehören“
Hurrelmanns Analyse wurde im Laufe des Jugend-entscheidet-Bundesforums mehrfach aus Sicht der Kommunen bestätigt. Katja Gerhardi, Vorsitzende der CDU-Fraktion im Stadtrat im sächsischen Bautzen, erlebt etwa eine „große Skepsis Parteien gegenüber“. „Ich bin parteilos und das ist der Grund, warum Menschen denken, sie können mir vertrauen“, schilderte die Kommunalpolitikerin. Ariane Fäscher, SPD-Bundestagsabgeordnete, registriert in ihrem Wahlkreis Oberhavel und östliches Havelland ebenfalls ein starkes Misstrauen: „Es fehlt oftmals das Bewusstsein dafür, dass man Politik mitgestalten kann. Das sind dann ,die da oben’. Man identifiziert sich lokal kaum, hat eher ein diffuses Angstgefühl mit Blick auf die Weltlage und es findet eine Vermischung von Vielem statt.“ Ariane Fäschers Fazit:
- „Umso wichtiger ist es, Menschen zu vermitteln, dass sie dazugehören und dass sie etwas verändern können.“
Der erste politische Erfolg des Bundespräsidenten
Dass es für politisches Engagement von zentraler Bedeutung ist, sich selbst als wirkmächtig zu erleben, zog sich wie ein roter Faden durch die dreitägige Akademie. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier schilderte in seinem Video-Grußwort, wie er sich einst als Jugendlicher im ländlichen Raum (Kreis Lippe) beim Bürgermeister für einen Jugendraum eingesetzt hat. „Diese Erfahrung, die Stimme zu erheben und beim Bürgermeister gehört zu werden und dadurch etwas zu verändern, hat mich geprägt“, betonte der Bundespräsident.
Früh die Erfahrung machen, etwas ändern zu können
Auch viele der Referenten und Podiumsgäste haben sich bereits als Jugendliche als wirkmächtig erlebt. Johannes Vogel setzte sich für einen Nachtbus ein, Max Lucks organsierte gemeinsam mit Anderen Widerstand gegen die NPD in seinem Stadtteil und CDU-Mitglied Diana Kinnert sorgte für saubere Radwege. Emily Vontz entdeckte ihr Faible für die Politik bereits als Schülerin durch das Programm „Jugend debattiert“, das von der Gemeinnützige Hertie-Stiftung durchgeführt wird. In der Podiumsdiskussion über die „Kommunen der Zukunft: Wie junge Menschen Städte neu denken“ berichtete René Wilke (Die Linke) allerdings davon, dass auch Misserfolge Motivation sein können: „Ich saß im Jugendparlament und mir hörte keiner zu. Das hat mich erst recht angespornt!“
Räume schaffen und Erfolgserlebnisse ermöglichen
„Macht Erweckungserlebnisse möglich“, war dann auch das Stichwort von Petra Roth, Schirmdame für das Bundesforum Jugend-entscheidet. Wer wüsste besser als die ehemalige Oberbürgermeisterin von Frankfurt am Main, die dreimal das Amt der Präsidentin des kommunalen Spitzenverbandes der Städte innehatte, wie notwendig das Wissen und die Beteiligung der Menschen in den Kommunen ist? Wichtige Entscheidungen in einer Stadt müssten unter Beteiligung der dort lebenden Menschen getroffen werden, das erhöhe die Akzeptanz, so das ehemalige Kuratoriumsmitglied der Hertie-Stiftung. Petra Roth hatte einen Tipp für die Kommunen:
Dauerbrennerthemen: Nachtbus und Skatepark
„Gut, dass Jugendbeteiligung Chefsache ist in den Kommunen. Demokratie muss gewollt, verstanden, aber auch eingeübt werden“, betonte Elisabeth Niejahr, Geschäftsführerin der Gemeinnützigen Hertie-Stiftung. Warum junge Menschen in die Kommunalpolitik gehören, machte Jugend-entscheidet-Alumnus Ron Schlegel im Gespräch mit Frank-J. Weise, Vorstandvorsitzender der Gemeinnützigen Hertie-Stiftung deutlich. Der Nachtbus in die nächstgrößere Stadt, ein Bolzplatz oder ein Skatepark – das sind Dauerbrennerthemen über Generationen hinweg. „Zu solchen Themen können sich auch unerfahrene Leute äußern, denn davon verstehen sie etwas, es geht um ihre Bedürfnisse und in ihrer Umgebung kennen sie sich aus“, sagte Ron Schlegel. Auch er ist der Meinung, dass Politik oft falsche Kanäle nutzt und deshalb Jugendliche nicht erreicht. „Umso besser ist es, wenn Jugendliche die Chance haben, vor Ort die Menschen in der Kommunalpolitik direkt anzusprechen.“ Frank-J. Weise appellierte im Dialog mit jungen Menschen:
- „Bleiben Sie tapfer, bleiben Sie beharrlich, vertiefen Sie Ihr Wissen, dann können Sie etwas bewegen, etwas verbessern!“
Knappe Ressourcen und trotzdem erfolgreich
Dass Jugendliche überall in Deutschland die Chance haben, die Zukunft zu gestalten, machte Sven Lehmann (Bündnis 90/Die Grünen), parlamentarischer Staatssekretär des Bundesfamilienministeriums deutlich, als er über Qualitätsstandards für Kinder- und Jugendbeteiligung sprach. „Verbindliche Regeln, politischer Wille vor Ort und möglichst schnell Ergebnisse“ tragen ihm zufolge zum Gelingen bei. Wie Ergebnisse aussehen können, zeigt ein Praxisbeispiel aus Nordrhein-Westfalen. Marco Holländer, verantwortlich für die Öffentlichkeitsarbeit der Gemeinde Windeck im Rhein-Sieg-Kreis, schilderte, wie „wir aus knappen Ressourcen das Beste rausgeholt haben“. Jugendliche der Gemeinde wünschten sich eigentlich einen Skatepark, den politisch Verantwortlichen war allerdings klar, dass dieser Wunsch keinesfalls schnell umzusetzen war – und dass sie nicht über die finanziellen Mittel dafür verfügten.
Bürgermeisterin wendet sich per Video an Kinder und Jugendliche
Bürgermeisterin Alexandra Gauß (Bündnis 90/Die Grünen) wandte sich in einem Video an die Jugendlichen und schilderte die Lage, ohne etwas zu beschönigen. Sie bot allerdings eine Alternative an, die schneller umsetzbar war – eine modulare Pumptrack Anlage, eine Mountainbike-Strecke, die sich zügig auf- und abbauen lässt. Dafür haben sich die Kinder und Jugendlichen entschieden und sie können auch in Zukunft über die nächsten Standorte abstimmen. Ein schöner Erfolg, doch die Bürgermeisterin wies darauf hin, dass selbst für diese günstigere Lösung 50.000 Euro an Spenden gesammelt werden mussten: „Wir alle im Rat haben privat gespendet.“ Zwar sei man in den Kommunen daran gewöhnt, selbst dafür zu sorgen, dass Dinge funktionieren, aber ganz ohne Förderung könne das nicht gelingen. Damit Bundes- und Landesmittel auch wirklich in den Kommunen ankommen, müsse die Förderstruktur besser werden:
- „Ich mag schon das Wort Förderungsnehmer nicht, ich will nicht als demütige Bittstellerin auftreten müssen.“
Gemeinsame Perspektive von Bund, Land und Kommune
An das Gefühl, sich als Bürgermeister von Bund und Land im Stich gelassen zu fühlen, konnte sich auch Johann Saathoff (SPD) gut erinnern. Der parlamentarische Staatssekretär im Bundesinnenministerium war vor zwanzig Jahren Bürgermeister der ostfriesischen Gemeinde Krummhörn. In seiner Keynote und als Teilnehmer der Podiumsrunde „Wie kann Föderalismus Chancen fördern, statt Verwaltungen zu bremsen?“ plädierte er dafür, nicht in „Silos zu denken“.
- „Bund, Länder und Kommunen müssen eine gemeinsame Perspektive finden. Dafür müssen wir uns gegenseitig besser verstehen. Wenn Berlin Mist baut, baden Kommunen das aus – das ist mir schon klar. Aber auch umgekehrt.“
Tobias Scherf (CDU), Bürgermeister der Hansestadt Warburg, betonte, „die Menge der gesellschaftlichen Verwerfungen trifft uns in den Kommunen, bei uns läuft der ganze Frust zusammen, wir stopfen die Löcher, sorgen dafür, dass das Land nicht untergeht“. Auch er setzt sich für das Miteinander ein:
- „Wir in den Kommunen verstehen uns als Akteure. Nicht nur Jugendliche haben während der Coronazeit verlernt, miteinander zu kommunizieren. Wenn wir etwas ändern wollen, müssen wir uns auch darüber streiten.“
Vertrauen in die Menschen vor Ort
Ein weiterer Befürworter der politischen Auseinandersetzung ist Dirk Neubauer. Der parteilose Landrat im Landkreis Mittelsachsen plädierte dafür, Streit zuzulassen und Probleme direkt anzusprechen – vor allem auch, um rechten Parteien nicht das Feld zu überlassen. Werden Missstände nicht benannt, fülle „die AfD mit Fleiß die Lücken und Jugendliche zeigen sich leider oft offen für deren vermeintliche Lösungen“. Dirk Neubauer appellierte daran, notwendige Diskussionen zu führen und es nicht hinzunehmen, dass die politische Debatte schleichend vergiftet werde. „Wir können gute Kompromisse aushandeln, das ist der Klebstoff der Gesellschaft. Gute Kompromisse, die mit Mehrheit nach guter und sachlicher Debatte entstehen“, sagte er. Großen Applaus erhielt er für sein Statement:
- „Stolz und Heimat sind positive Begriffe, die dürfen wir Rechten nicht überlassen. Die Kommune ist die Herzkammer der Demokratie.“
Die Ohnmachtsfalle vermeiden
Neubauer berichtet zudem davon, dass während seiner Zeit als Bürgermeister von Augustusburg 50.000 Euro jährlich für Projekte von Bürgerinnen und Bürgern zur Verfügung standen. Ohne Papierkram und in vollem Vertrauen darauf, dass das Geld sinnvoll verwendet würde. Einer von vielen guten Ansätzen, die während des Jugend-entscheidet-Bundesforums diskutiert wurde. Den Teilnehmenden war klar, dass sie auch Macht abgeben, wenn sie Jugendlichen freie Hand über Budgets lassen. „Ich möchte den Jugendlichen Vertrauen schenken“, sagte etwa Bürgermeisterin Alexandra Gauß aus der nordrhein-westfälischen Gemeinde Windeck. Vertrauen als Motivation und als probates Mittel gegen das Gefühl, nicht gehört zu werden. Autor und Beteiligungsexperte Erik Flügge hatte während der Podiumsrunde „Flucht in die City? Warum kleine Kommunen für die Zukunft der Demokratie entscheidend sind“ gewarnt: „Junge Leute brechen mit Politik, weil sie sich ohnmächtig fühlen. Wenn wir Beteiligung organisieren, dürfen wir keine Ohnmachtsfalle stellen und alles dafür tun, nicht in eine Mühle aus Finanzierung und Verordnungen zu geraten.“ Sein Tipp:
- „Halten Sie Beteiligungsprojekte klein und überschaubar. Es muss nicht immer der große Basketballplatz sein, manchmal reicht auch der Korb an der örtlichen Grundschulwand.“
Den Jugendlichen zuhören
Die Bürgermeisterinnen und Bürgermeister nutzen die Jugend-entscheidet-Akademie auch dazu, sich von Gleichgesinnten Tipps zur eigenen Motivation geben zu lassen. Was tun, wenn weniger Jugendliche Angebote wahrnehmen, als erhofft? „Machen wir uns nichts vor, als Bürgermeister brauchst du ein starkes mentales Gerüst und musst viel Frust und Kritik aushalten“, sagte etwa René Wilke (Die Linke) und erhielt dafür starken Zuspruch. Und noch stärkeren Applaus für seine Aussage: „Kritik nehme ich an. Aber ich mache auch deutlich, dass der Staat kein Pizzadienst ist, wo man sich beschweren kann, dass die Salami nicht durch ist.“ Der Oberbürgermeister von Frankfurt (Oder), der auch Präsidiumsmitglied des Deutschen Städtetages ist, plädierte für eine offene Haltung Jugendlichen gegenüber:
- „Menschen haben ein Gespür für Haltung. Wir brauchen ein Klima, das jungen Menschen zeigt, dass sie gewollt sind, dass wir ihnen zuhören."
Info: Den Text verfasste Katja Wallrafen für die Gemeinnützige Hertie-Stiftung